Johann Wolfgang Goethe (1749-1832)
Italienische Reise (1786-1788)
St. Agata, den 24. Februar 1787
[...] Mola di Gaeta begrüsste uns abermals mit den reich¬sten Pomeranzenbäumen. Wir blieben einige Stunden. Die Bucht vor dem Städtchen gewährt eine der schönsten Aussichten, das Meer spült bis heran. Folgt das Auge dem rechten Ufer und erreicht es zuletzt das Hornende des halben Mondes, so sieht man auf einem Felsen die Festung Gaëta in mässiger Ferne. Das linke Horn erstreckt sich viel weiter; erst sieht man eine Reihe Gebirge, dann den Vesuv, dann die Inseln. Ischia liegt fast der Mitte gegenüber.
Hier fand ich am Ufer die ersten Seesterne und Seeigel ausgespült. Ein schönes grünes Blatt, wie das feinste Velinpapier, dann aber merkwürdige Geschiebe: am häufigsten die gewöhnlichen Kalksteine, sodann aber auch Serpentin, Jaspis, Quarze, Kieselbreccien, Granite, Porphyre, Marmorarten, Glas von grüner und blauer Farbe. Die zuletzt genannten Steinarten sind schwerlich in dieser Gegend erzeugt, sind wahrscheinlich Trümmern alter Gebäude, und so sehen wir denn, wie die Welle vor unsern Augen mit den Herrlichkeiten der Vorwelt spielen darf. Wir verweilten gern und hatten unsere Lust an der Natur der Menschen, die sich beinahe als Wilde betrugen. Von Mola sich entfernend, hat man immer schöne Aussicht, wenn sich auch das Meer verliert. Der letzte Blick darau fist eine liebliche Seebucht, die gezeichnet ward. Nun folgt gutes Fruchtfeld, mit Aloen eingezäunt. Wir erblickten eine Wasserleitung, die sich vom Gebirg' her nach unkenntlichen, verworrenen Ruinen zog.
Dann folgt die Überfahrt über den Fluss Garigliano. Man wandert sodann durch ziemlich fruchtbare Gegenden auf ein Gebirg' los. Nichts Auffallendes. Endlich der erste vulkanische Aschenhügel. Hier beginnt eine grosse, herrliche Gegend von Bergen und Gründen, über welche zuletzt Schneegipfel hervorragen. Auf der nähern Höhe eine lange, wohl in die Augen fallende Stadt. In dem Tal liegt St. Agata, ein ansehnlicher Gasthof, wo ein lebhaftes Feuer in einem Kamin, das als Kabinett angelegt ist, brannte. Indessen ist unsere Stube kalt, keine Fenster, nur Läden, und ich eile, zu schliessen.
Neapel, den 27. Februar 1787.
Gestern bracht' ich den Tag in Ruhe zu, um eine kleine körperliche Unbequemlichkeit erst abzuwarten, heute ward geschwelgt und die Zeit mit Anschauung der herrlichsten Gegenstände zugebracht. Man sage, erzähle, male, was man will, hier ist mehr als alles. Die Ufer, Buchten und Busen des Meeres, der Vesuv, die Stadt, die Vorstädte, die Kastelle, die Lusträume! - Wir sind auch noch abends in die Grotte des Posilipo gegangen, da eben die untergehende Sonne zur andern Seite hereinschien. Ich verzieh es allen, die in Neapel von Sinnen kommen, und erinnerte mich mit Rührung meines Vaters, der einen unauslöschlichen Eindruck besonders von denen Gegenständen, die ich heut zum erstenmal sah, erhalten hatte. Und wie man sagt, dass einer, dem ein Gespenst erschienen, nicht wieder froh wird, so konnte man umgekehrt von ihm sagen, dass er nie ganz unglücklich werden konnte, weil er sich immer wieder nach Neapel dachte. Ich bin nun nach meiner Art ganz stille und mache nur, wenn's gar zu toll wird, grosse, grosse Augen.
Neapel, den 1. März
[...] Abends.
Von dem heutigen Tage wäre schwerlich Rechenschaft zu geben. Wer hat es nicht erfahren, dass die flüchtige Lesung eines Buchs, das ihn unwiderstehlich fortriss, auf sein ganzes Leben den grössten Einfluss hatte und schon die Wirkung entschied, zu der Wiederlesen und ernstliches Betrachten kaum in der Folge mehr hinzutun konnte. So ging es mir einst mit »Sakontala«, und geht es uns mit bedeutenden Menschen nicht gleicherweise? Eine Wasserfahrt bis Pozzuoli, leichte Landfahrten, heitere Spaziergänge durch die wundersamste Gegend von der Welt. Unterm reinsten Himmel der unsicherste Boden. Trümmern undenkbarer Wohlhäbigkeit, zerlästert und unerfreulich. Siedende Wasser, Schwefel aushauchende Grüfte, dem Pflanzenleben widerstrebende Schlackenberge, kahle, widerliche Räume und dann doch zuletzt eine immer üppige Vegetation, eingreifend, wo sie nur irgend vermag, sich über alles Ertötete erhebend, um Landseen und Bäche umher, ja, den herrlichsten Eichwald an den Wänden eines alten Kraters behauptend.
Und so wird man zwischen Natur- und Völkerereignissen hin und wider getrieben. Man wünscht zu denken und fühlt sich dazu zu ungeschickt. Indessen lebt der Lebendige lustig fort, woran wir es denn auch nicht fehlen liessen. Gebildete Personen, der Welt und ihrem Wesen angehörend, aber auch, durch ernstes Geschick gewarnt, zu Betrachtungen aufgelegt. Unbegrenzter Blick über Land, Meer und Himmel, zurückgerufen in die Nähe einer liebenswürdigen jungen Dame, Huldigung anzunehmen gewohnt und geneigt.
Unter allem diesem Taumel jedoch verfehlt' ich nicht, manches anzumerken. Zu künftiger Redaktion wird die an Ort und Stelle benutzte Karte und eine flüchtige Zeichnung von Tischbein die beste Hülfe geben; heute ist mir nicht möglich, auch nur das mindeste hinzuzufügen.
Den 2. März
bestieg ich den Vesuv, obgleich bei trübem Wetter und umwölktem Gipfel. Fahrend gelangt' ich nach Resina, sodann auf einem Maultiere den Berg zwischen Weingärten hinauf; nun zu Fuss über die Lava vom Jahre Einundsiebenzig, die schon feines, aber festes Moos auf sich erzeugt hatte; dann an der Seite der Lava her. Die Hütte des Einsiedlers blieb mir links auf der Höhe. Ferner den Aschenberg hinauf, welches eine sauere Arbeit ist. Zwei Dritteile dieses Gipfels waren mit Wolken bedeckt. Endlich erreichten wir den alten, nun ausgefüllten Krater, fanden die neuen Laven von zwei Monaten vierzehn Tagen, ja, eine schwache von fünf Tagen schon erkaltet. Wir stiegen über sie an einem erst aufgeworfenen vulkanischen Hügel hinauf, er dampfte aus allen Enden. Der Rauch zog von uns weg, und ich wollte nach dem Krater gehn. Wir waren ungefähr fünfzig Schritte in den Dampf hinein, als er so stark wurde, dass ich kaum meine Schuhe sehen konnte. Das Schnupftuch vorgehalten half nichts, der Führer war mir auch verschwunden, die Tritte auf den ausgeworfenen Lavabröckchen unsicher, ich fand für gut, umzukehren und mir den gewünschten Anblick auf einen heitern Tag und verminderten Rauch zu spa¬ren. Indes weiss ich doch auch, wie schlecht es sich in sol¬cher Atmosphäre Atem holt.
Übrigens war der Berg ganz still. Weder Flamme, noch Brausen, noch Steinwurf, wie er doch die ganze Zeit her trieb. Ich habe ihn nun rekognosziert, um ihn förmlich, sobald das Wetter gut werden will, zu belagern.
Die Laven, die ich fand, waren mir meist bekannte Gegenstände. Ein Phänomen hab' ich aber entdeckt, das mir sehr merkwürdig schien und das ich näher untersuchen, nach welchem ich mich bei Kennern und Sammlern erkundigen will. Es ist eine tropfsteinförmige Bekleidung einer vulkanischen Esse, die ehemals zugewölbt "war, jetzt aber aufgeschlagen ist und aus dem alten, nun ausgefüllten Krater herausragt. Dieses feste, grauliche, tropfsteinförmige Gestein scheint mir durch Sublimation der allerfeinsten vulkanischen Ausdünstungen ohne Mitwirkung von Feuchtigkeit und ohne Schmelzung gebildet worden zu sein; es gibt zu weitern Gedanken Gelegenheit.
Heute, den dritten März, ist der Himmel bedeckt und ein Scirocco weht; zum Posttage gutes Wetter.
Sehr gemischte Menschen, schöne Pferde und wunderliche Fische habe ich hier übrigens schon genug gesehn.
Von der Lage der Stadt und ihren Herrlichkeiten, die so oft beschrieben und belobt sind, kein Wort. »Vedi Napoli e poi muori!« sagen sie hier. »Siehe Neapel und stirb!«
Neapel, den 3, März
[...] Dass kein Neapolitaner von seiner Stadt weichen will, dass ihre Dichter von der Glückseligkeit der hiesigen Lage in gewaltigen Hyperbeln singen, ist ihnen nicht zu verdenken, und wenn auch noch ein paar Vesuve in der Nachbarschaft stünden. Man mag sich hier an Rom gar nicht zurückerinnen; gegen die hiesige freie Lage kommt einem die Hauptstadt der Welt im Tibergrunde wie ein altes, übelplaciertes Kloster vor.
Caserta, den 16. März 1787
[...] Neapel ist ein Paradis, jedermann lebt in einer Art von trunkner Selbstvergessenheit. Mir geht es ebenso, ich erkenne mich kaum, ich scheine mir ein ganz anderer Mensch. Gestern dacht' ich: «Entweder du warst sonst toll, oder du bist es jetzt».
Neapel, Dienstag, den 20. März 1787.
Die Kunde einer soeben ausbrechenden Lava, die, für Neapel unsichtbar, nach Ottajano hinunterfliesst, reizte mich, zum dritten Male den Vesuv zu besuchen. Kaum war ich am Fusse desselben aus meinem zweirädrigen, einpferdigen Fuhrwerk gesprungen, so zeigten sich schon jene beiden Führer, die uns früher hinäufbegleitet hatten. Ich wollte keinen missen und nahm den einen aus Gewohnheit und Dankbarkeit, den andern aus Vertrauen, beide der mehreren Bequemlichkeit wegen mit mir.
Auf die Höhe gelangt, blieb der eine bei den Mänteln und Viktualien, der jüngere folgte mir, und wir gingen mutig auf einen ungeheuren Dampf los, der unterhalb des Kegelschlundes aus dem Berge brach; sodann schritten wir an dessen Seite her gelind hinabwärts, bis wir endlich unter klarem Himmel aus dem wilden Dampf-gewölke die Lava hervorquellen sahen.
Man habe auch tausendmal von einem Gegenstande gehört, das Eigentümliche desselben spricht nur zu uns aus dem unmittelbaren Anschauen. Die Lava war schmal, vielleicht nicht breiter als zehn Fuss, allein die Art, wie sie eine sanfte, ziemlich ebene Fläche hinabfloss, war auffallend genug; denn indem sie während des Fort-fliessens an den Seiten und an der Oberfläche verkühlt, so bildet sich ein Kanal, der sich immer erhöht, weil das geschmolzene Material auch unterhalb des Feuerstroms erstarrt, welcher die auf der Oberfläche schwimmenden Schlucken rechts und links gleichförmig hinunterwirft, wodurch sich denn nach und nach ein Damm erhöht, auf welchem der Glutstrom ruhig fortfliesst wie ein Mühlbach. Wir gingen neben dem ansehnlich erhöhten Damme her, die Schlacken rollten regelmässig an den Seiten herunter bis zu unsern Füssen. Durch einige Lükken des Kanals konnten wir den Glutstrom von unten
sehen und, wie er weiter hinabfloss, ihn von oben beobachten.
Durch die hellste Sonne erschien die Glut verdüstert, nur ein mässiger Rauch stieg in die reine Luft. Ich hatte Verlangen, mich dem Punkte zu nähern, wo sie aus dem Berge bricht; dort sollte sie, wie mein Führer versicherte, sogleich Gewölb und Dach über sich her bilden, auf welchem er öfters gestanden habe. Auch dieses zu sehen und zu erfahren stiegen wir den Berg wieder hinauf, um je¬nem Punkte von hintenher beizukommen. Glücklicherweise fanden wir die Stelle durch einen lebhaften Windzug entblösst, freilich nicht ganz, denn ringsum qualmte der Dampf aus tausend Ritzen, und nun standen wir wirklich auf der breiartig gewundenen, erstarrten Decke, die sich aber so weit vorwärts erstreckte, dass wir die Lava nicht konnten herausquellen sehen.
Wir versuchten noch ein paar Dutzend Schritte, aber der Boden ward immer glühender; sonnenverfinsternd und erstickend wirbelte ein unüberwindlicher Qualm. Der vorausgegangene Führer kehrte bald um, ergriff mich, und wir entwanden uns diesem Höllenbrudel.
Nachdem wir die Augen an der Aussicht, Gaumen und Brust aber am Weine gelabt, gingen wir umher, noch andere Zufälligkeiten dieses mitten im Paradies aufgetürmten Höllengipfels zu beobachten. Einige Schlünde, die als vulkanische Essen keinen Rauch, aber eine glühende Luft fortwährend gewaltsam ausstossen, betrachtete ich wieder mit Aufmerksamkeit. Ich sah sie durchaus mit einem tropfsteinartigen Material tapeziert, welches zitzen- und zapfenartig die-Schlünde bis oben bekleidete. Bei der Ungleichheit der Essen fanden sich mehrere dieser herabhängenden Dunstprodukte ziemlich zur Hand, so dass wir sie mit unsern Stäben und einigen hakenartigen Vorrichtungen gar wohl gewinnenkonnten. Bei dem Lavahändler hatte ich schon dergleichen Exemplare unter der Rubrik der wirklichen Laven gefunden, und ich freute mich, entdeckt zu haben, dass es vulkanischer Russ sei, abgesetzt aus den heissen Schwaden, die darin enthaltenen verflüchtigten mineralischen Teile offenbarend.
Der herrlichste Sonnenuntergang, ein himmlischer Abend erquickten mich auf meiner Rückkehr; doch konnte ich empfinden, wie sinneverwirrend ein ungeheurer Gegensatz sich erweise. Das Schreckliche zum Schönen, das Schöne zum Schrecklichen, beides hebt einander auf und bringt eine gleichgültige Empfindung hervor. Gewiss wäre der Neapolitaner ein anderer Mensch, wenn er sich nicht zwischen Gott und Satan eingeklemmt fühlte.
Neapel, den 29. März 1787.
Seit einigen Tagen machte sich das Wetter ungewiss, heute, am bestimmten Tage der Abfahrt, ist es so schön als möglich. Die günstigste Tramontane, ein klarer Sonnenhimmel, unter dem man sich in die weite Welt wünscht. Nun sag' ich noch allen Freunden in Weimar und Gotha ein treues Lebewohl! Eure Liebe begleite mich, denn ich möchte ihrer wohl immer bedürfen. Heute nacht träumte ich mich wieder in meinen Geschäften. Es ist denn doch, als wenn ich mein Fasanenschiff nirgends als bei euch ausladen könnte. Möge es nur erst recht stattlich geladen sein!
Montag, den 14. Mai 1787.
[...] Vom Verdeck sah ich mit Vergnügen die Insel Capri in ziemlicher Entfernung zur Seite liegen und unser Schiff in solcher Richtung, dass wir hoffen konnten, in den Golf hineinzufahren, welches denn auch bald geschah. Nun hatten wir die Freude, nach einer ausgestandenen harten Nacht dieselben Gegenstände, die uns abends vorher entzückt hatten, in entgegengesetztem Lichte zu bewundern. Bald liessen wir jene gefährliche Felseninsel hinter uns. Hatten wir gestern die rechte Seite des Golfs von weitem bewundert, so erschienen nun auch die Kastelle und die Stadt gerade vor uns, sodann links der Posilipo und die Erdzungen, die sich bis gegen Procida und Ischia erstreckten. Alles war auf dem Verdeck, voran ein für seinen Orient sehr eingenommener griechischer Priester, der den Landesbewohnern, die ihr herrliches Vaterland mit Entzücken begrüssten, auf ihre Frage, wie sich denn Neapel zu Konstantinopel verhalte, sehr pathetisch antwortete: »Anche questa è una città!« -»Auch dieses ist eine Stadt!« - Wir langten zur rechten Zeit im Hafen an, umsummt von Menschen; es war der lebhafteste Augenblick des Tages. Kaum waren unsere Koffer und sonstigen Gerätschaften ausgeladen und standen am Ufer, als gleich zwei Lastträger sich derselben bemächtigten, und kaum hatten wir ausgesprochen, dass wir bei Moriconi logieren würden, so liefen sie mit dieser Last wie mit einer Beute davon, so dass wir ihnen durch die menschenreichen Strassen und über den bewegten Platz nicht mit den Augen folgen konnten. Kniep hatte das Portefeuille unter dem Arm, und wir hätten wenigstens die Zeichnungen gerettet, wenn jene Träger, weniger ehrlich als die neapolitanischen armen Teufel, uns um dasjenige gebracht hätten, was die Brandung verschont hatte.