Richard Voss
Ischia: Eine Erinnerung
An einem leuchtenden Frühlingstage betrat ich Ischia zum erstenmal. Das auf steilen Felsen thronende Kastell von Ischia, darin Cesare Borgia, dieser Napoleonide des Mittelalters, gefangen gewesen, wollte ich besuchen.
Man führte mich in ein dumpfes Mauerloch und sagte mir: „Hier sass der dämonische Papstsohn, ein gestürzter Heros!“ Schauer wehten mich an, und rasch trat ich an die enge Fensterhöhlung, durch die ein einsamer Sonnenstrahl breit und goldig in die kalte Dämmerung des Kerkers fiel.
In der Gloriole des Sonnenfeuers erblickte ich die hesperische Insel, das azurblaue Meer, das lichte Gestade des Festlandes mit dem schimmernden Felsenthron des Circekaps.
Welche Empfindungen mögen jenen gewaltigen eingekerkerten Geist beseelt haben, angesichts dieser Küste Italiens, von der Burg Ischias herab gesehen. Dieser Strand sollte der unzerstörbare Reif sein, den Cesare Borgia in Blut und Glut um sein Gebiet schmieden wollte, denn der „Herzog der Romagna“ war nur die Überschrift eines Kapitels von dem Völkerepos: „Ein einiges Italien mit Cesare Borgia als Gewaltherrscher und Bezwinger“ – auch des heiligen Vaters.
An den Klippen Ischias zersplitterte Cesare Borgias Königskrone, und, an diesem Fenster stehend, mochte er hinübergeschaut haben nach dem glanzvollen Gestade, in Gedanken, wie der grosse Gefangene sie gedacht hatte, wenn er von seinem weissen Hause aus die Felsengipfel Korsikas herüberdämmern sah.
Den braunen Felskegel, der wie ein kleines Capri in die blaue Meeresflut sich hinausschiebt, stieg ich hinunter, gelangte über den Damm, mit dem das Kastell an das Inselland gefesselt ist, nach Borgo d’Ischia und durch ein Gewirr enger Gassen, in denen mich das Leben des Südens umtoste, auf die nach Casamicciola führende Strasse und bald über den alten Lavastrom dell’Arso.
Breit und mächtig wälzt er sich den elyseeischen Berg hinab, dem Meere zu, eine wilde Flut erstarten feurigen Schlammes aus dem Leibe von Mutter Erde. Die wütenden Wogen stauen sich, türmen sich empor, schieben sich ineinander , schwellen zu Hügeln an. Gleich gelben und roten Flammen durchzuckt es das schwarze Gestein, das wie von einem Dämon verheerend durch ein paradiesisches Gefilde geschleudert zu sein scheint, wie aus Neid gegen die göttliche Schönheit der Welt, die auf Ischia zur Offenbarung geworden.
Weit wich ich ab vom Wege. Ich durchirrte das uralte Lavafeld, verstieg mich darin wie in den Trümmern eines gewaltigen Bergsturzes. Oft schien die grausige Steinmenge über mir zusammenzuschlagen, schien ich versinken zu müssen. Dann wiederum gelangte ich inmitten der stygischen Flut auf kleine, wundersame Eilande, blau von blühendem Rosmarin und goldig von Margheriten. Ich kam zu köstlichen Stellen, wo Myrte und Oleander, weissblütige Erikabäume und gelber Ginster das märchenhafteste Unterholz bildeten, von jungen Pinienwäldern überragt. Die schlanken Stämme erglühten wie Porphyrsäulen, unter den breiten Wipfeln fangen die Merlen, Blaudrosseln flogen auf, die zitternde Luft füllte die leise Musik der Insekten, und ich atmete den Duft des heissen Glanzes wie den Weihrauch eines Gottesdienstes. Und doch, wenn auch die Natur die Stätte des Schreckens mit einem Blütenschleier umwebte, so war für mich in dem Elysium von Ischia dieser Lavastrom von dell’Arso ein „Memento mori“. Und je weiterhin ich das lachende Eiland durchwanderte, um je unheimlicher strahlte mir aus all dem Glanz und der Pracht ein Menetekel entgegen: Krater an Krater, ein Lavafeld neben dem andern, und in der Tiefe leise, leise ein Rauschen und Raunen, heimlich, feierlich ein Brausen und Branden, als bereiteten unterirdische Mächte den Lebenden dort oben im Sonnenlichte ein feindseliges Geschick. Aber das braune, fröhliche Inselvolk belehrte mich eines Bessern: das wären alle die heissen heilsamen Quellen, in denen man Eier sieden könnte, und die vielen Fremden nach der Insel herüberlockten. Und die Fremden brachten mit sich das liebe, göttliche Geld, für das jedes echte Kind des Südens sich steinigen und kreuzigen lässt. – Von Borgo d’Ischia aus durchwanderte ich die Insel über Casamicciola bis nach dem leuchtenden Forio, das mit seinen weissen Mauern und platten Dächern, seinen offenen Bogengängen und bunten Gärten wie ein winziges Stück Arabien unter italienischen Himmel daliegt. Vom Strande stieg ich auswärts bis empor zu dem zerrissen Felsengipfel des Berges Epomeo, wo der alte Einsiedler von San Niccolo haust, ein genius loci etwas bedenklicher Art.
Welche Galerie von Bildern! Nicht in Farbe ist der Pinsel getaucht, der diese Landschaften malte, sondern in Glanz und Gluten. Erde und Himmel strahlen, als spännen sich hier die Tage ab als eine ununterbrochene Reihe von Lebensfesten! Wo Blumen und Blüten die Scholle nicht überwuchern, trägt sie dreifach köstliche Frucht. Um den Stamm der Feige und Olive schlingt sich die Rebe, und im Schatten von Mandel und Pfirsich blaut der Flachs und reift der goldige Mais. Die Natur dieses Gestades ist eine Bacchantin, die bekränzten Hauptes zum Rauschen der Meereswoge einen mystischen Reigen tanzt.
Als ich an einem von Gold und Purpur durchflammten Abend wie in einem Märchen durch Ischias Fluren dahinschritt, schien rings um mich das farbige Land zu klingen und zu tönen. Aus jedem der kleinen, hellen Häuser, die im Feuer des Sonnenuntergangs ausglühten, schallte Musik und Gesang. Die gelbe Landstrasse daher bewegte sich ein Zug schlanker Gestalten mir entgegen. Auf dem prächtigen Hintergrunde des Himmels gesehen, glichen diese Mädchen einer Schar von Priesterinnen der Lebensfreude. Sie schwangen das Tamburin über ihren Köpfen, und als sie bei dem Fremdling angelangt waren, blieben sie stehen, stellten sich im Kreise auf und begannen die Tarantella zu tanzen – zu rasen, dass sie jungen Mänaden glichen.
Nein! Keine Warnung stand für dieses Völkchen auf seinen Lavaströmen geschrieben; es lachte nur, wenn unterirdische Mächte warnende Stimmen erhohen, und es tanzte beim Schwingen des Tamburins die Tarantella, wenn unsern Särgen zogen, die Toten zu bestatten, hundert von Toten!
Erdbeben!
Erdbeben an einem wonnigen Sommerabend, gerade zur Zeit, wo die Insel von der goldigen Flut der Ginsterblüte überschwemmt wurde, wo die Myrten Ischias Schönheit wie mit einem bräutlichen Schleier umwoben, der Oleander am Gestade seine rosigen Zweige über der azurblauen Woge breitete und die Granate ihre brennendroten Kelche erschloss. Erdbeben, wo die Villen und Gastöfe Casamicciolas von Fremden wimmelten, die das gesegnete Geld über die Insel ausstreuten; Erdbeben, während man nach der Glut des Tages ausruhte, das junge Volk unter den Rebenlauben verliebte Rispetti sang und die Jungfrauen von Forio in den Säulenhallen und auf den Höfen die Tarantella tanzten.
Ich sah das Schlachtfeld von Sedan; aber das Grabgefilde von Casamicciola war schrecklicher.
Das ganze Eiland durchwanderte ich – Gräber überall. Den Epomeo erstieg ich; der erste, der nach der Katastrophe hinauf kam. Der Einsiedler war geflohen und der schöne Felsengipfel auf diesem Kirchhof von Ischia wie eine düstere Grabpyramide, auf der geschrieben stand: Memento mori!
Als ich danach die unglückselige Insel wiedersah, war’s ein grauer Herbsttag, und das Fest verfiel. Auch die Schutthügel, die Gräber bildeten, schüttelte.
Dann kam ein Hochsommertag, den vergesse ich nie!
Ich befand mich auf einem Schiffe, das von Neapel nach Ischia fuhr. Niemals glaubte ich den Golf so zauberisch schön gesehen zu haben. Und ich musste mich besinnen, was für eine Fracht es war, die auf einem zweiten Schiffe hinter uns drein zog nach Ischia hinüber: ein grosses Fahrzeug voll langer, schmaler, weisser Kasten. Und jeder Kasten ein Sarg! Hochauf gehäuft Särge, Särge! Und alle hinüber nach Ischia!
Ein Todesschweigen auf unserm Schiffe, welches vor jener Barke her durch das glanzvolle Meer zog. Die Passaggiere eine einzige Trauergemeinde, die zu einem Begräbnis ging.
Ischia entsteigt den Wellen, schön und glückselig wie das Lächeln einer Gottheit. Plötzlich ein Aufschrei, schrill und gellend! Ein Name wird gerufen mit ausbrechendem Jammer und Verzweiflung.
Casamicciola!
Wir zeigen es uns einander. Dort liegt es, dort! Es ruht zwischen seinen Gärten und Weingefilden, eingehüllt in Blüten und Sommerpracht. Kein Baum scheint gebrochen, kein Zweig geknickt. Und doch war Casamicciola die Stätte schauerlicher Vernichtung, war es ein Kirchhof, ein einziges, grässliches Grab. Abends vom Meere aus gesehen, schien Casamiciiola eine lustige Illumination zu haben. Über statt des bacchischen Lärms der Tamburine klagte ein heiseres Totenglöcklein, und statt verliebter Gesänge tönte das feierliche „Ora pro nobis“ zu mir herüber.
So nahm ich Abschied von Ischia.